Zum 191. Geburtstag von Ellen Gould (Harmon) White (26.11.1827-16.07.1915)
Wikipedia definiert Hardliner als „Personen, die gegen alle Widerstände (‚um jeden Preis‘) ihre – vielfach auf ein einzelnes Ziel ausgerichtete – Politik durchzusetzen versuchen und jeglichen Kompromiss ablehnen. Gewöhnlich wird damit verbunden, dass sie wenig Hemmungen auch beim Einsatz von Gewalt haben: Sie vertreten oft kompromisslos eine ‚harte Linie‘.“
Solche „Falken“ (engl. hawks) gab es auch zu biblischen Zeiten. Hasserfüllt, voller Stolz und Eifersucht lehnten die Pharisäer und Sadduzäer Jesus Christus, den Sohn Gottes, ab, trotz aller Zeichen und Wunder, die er vor ihnen getan hatte. Am Ende haben sie ihn ans Kreuz gebracht. Jesus sagte: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und was euer Vater begehrt, wollt ihr tun!“ (Joh 8,44) Der größte Hardliner ist Satan. In ihm ist keine Liebe, deshalb geht er lieblos mit anderen um.
Wenn es etwas gibt, dass die Ethik, das Verhalten und den Umgang mit anderen Menschen maßgeblich prägt, dann ist es das Gottesbild. In der Heiligen Schrift wird Gott als gnädiger, barmherziger, liebevoller und geduldiger Vater beschrieben (Vgl. 2Mo 34,6; Ps 103,8; Jer 31,3; Lk 15,11-32; 1Joh 4,16). Dass der Schöpfer dieser Welt zugleich Richter ist und ohne Zutun von Satan die Sintflut schickt (1Mo 7-9), Sodom und Gomorra zerstört (1Mo 19) und am Ende Satan mit all seinen Nachfolgern vernichten wird (Offb 20,7-15), widerspricht dem nicht, sondern macht das Bild noch vollständiger. Ist es doch diese Spannung zwischen Sünder und Sünde („Christus aber hasst die Sünde und liebt den Sünder“ SDL-T 446.3), zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit („denn Gott ist gerecht und barmherzig“ CKB 196.6), zwischen Strenge und Versöhnlichkeit („Ich schlage und ich heile“ Vgl. 5Mo 32,39; Hiob 5,18; Hos 6,1; Hebr 12,6-11; Off 3,19), die Gott in Liebe und Vollkommenheit zu meistern vermag.
Ellen G. White (1827-1915) hatte das Vorrecht, den „Heiligen“ zu sehen. Wenn es der Gott der Bibel war, der sich ihr offenbart hat, dann kann sie selbst kein Hardliner gewesen sein. Wenn wir durch Betrachtung der Herrlichkeit des Herrn verändert werden (2Kor 3,18), sollte das auch in unserem Leben zu erkennen sein. Wie ist sie als Botin des Herrn mit dieser Spannung von Sünde und Sünder, von Gesetz und Gnade, von Ermahnung und Barmherzigkeit umgegangen?
Ich denke zum Beispiel an die Geschichte von Joseph H. Waggoner (1820-1889), dem Vater von Ellet J. Waggoner (1855-1916). Er hatte sich ab ca. 1850 den sabbathaltenden Adventisten angeschlossen und arbeitete als Prediger. Er leitete ab 1878 in Oakland, Kalifornien, den Pacific Press Verlag und war ab 1881 Redakteur der Zeitschrift Signs of the Times. Damit war er in leitender (administrativer) Stellung tätig. Ellen White schrieb Waggoner mehrere Briefe, wo sie ihn wegen seines Ehebruchs mit Lottie Chittenden streng zurechtwies (Siehe Brief 10, 1885, auch veröffentlicht in TSB 182-184; Briefe 73, 74, 51, 1886, in TSB 184-193).
Im November 1885 hatte Waggoner mit dem jungen Predigerkollegen Emergene P. Daniels (1845-1920) zu tun (Nicht verwechseln mit dem späteren GK-Präsidenten A. G. Daniells, 1858-1935). Daniels Charakterschwächen hatten zu Schwierigkeiten in der Adventgemeinde in Healdsburg, Kalifornien, geführt, woraufhin Waggoner Pastor Daniels ein Predigtverbot erteilte und sich dafür stark machte, dessen Beglaubigung nicht zu verlängern. Mit anderen Worten: Daniels sollte seinen Job verlieren!
Als Ellen White davon hörte, befand sie sich gerade in Oslo (damals Christiania), Norwegen. Sie schrieb Waggoner einen deutlichen Brief und setzte sich für Daniels ein. Sie erinnerte Waggoner an seine eigenen Schwächen, seinen Ehebruch und harschen Umgang mit seiner Frau und ermutigte ihn unter viel Bitten und Flehen, sich aus der Schlinge Satans zu befreien: „Ich möchte sehen, wie du über Satan triumphierst. Ich möchte dich als Sieger durch die Tore der Stadt Gottes einziehen sehen. Ich möchte sehen, dass du die Reichtümer des unsterblichen Erbes empfängst.“ (Brief 10, 1885, vom 4. Nov. 1885)
Sie schrieb ihm auch mehrmals, dass er andere nicht verurteilen soll: „Um Christi Willen, halte dich mit deiner harschen Verurteilung anderer zurück, denn dadurch wird deutlich, dass du nicht wie Christus handelst, sondern einen anderen Geist hast. … Deine Schärfe und Anmaßung resultiert aus einer kranken [Vorstellung] von Gnade. … Ich bitte dich inständig, dass du dir nicht anmaßt, irgendjemanden außer dich selbst zu verurteilen.“
Waggoner antwortete Ellen White am 18. März 1886. Ihr Brief habe ihn sehr berührt und er sei überrascht, dass sie noch Sympathie für ihn hätte. Er versprach erneut, sein Leben in Ordnung zu bringen und hoffte, dass Gott ihn nicht aus seinem Werk ausschließen würde.
Nun war der Ehebruch kein Geheimnis geblieben und die Sache mit Daniels sprach sich auch herum. Der Fall kam zum GK-Präsidenten George I. Butler (1834-1918), der in einem Brief an Ellen White fragte, ob sie Waggoner die Beglaubigung entziehen sollen (23.08.1886). Ellen White legte diese Entscheidung in die Hände der Generalkonferenz. Sie wollte Waggoner aber am liebsten nach Europa holen und fragte: „Worauf können wir uns verlassen? Wir müssen die Gewissheit haben, dass er mit Gott im Reinen ist. Wir wollen die Sünde nicht leicht nehmen und etwa zum Sünder sagen: ,Es ist alles in Ordnung mit dir.‘ Wir möchten Bruder Waggoner nicht mit der Verantwortung hier betrauen, wenn er nicht mit Gott verbunden ist … Wir dürfen diese Sache nicht leicht nehmen … Die Plage der Sünde liegt auf ihm.“ (Brief 51, 1886, vom 6. Sep. 1886)
In einem weiteren Brief setzte sich Ellen White für Waggoner ein und ermahnte Butler, „Waggoner zu retten“, wenn er kann. Sie schrieb: „Wir wünschen uns einen Mann mit seinen Fähigkeiten und Erfahrungen, aber nicht mit seiner Schwachheit … Satan kämpft hart um diese Seele, und dieses Schiff ist nahezu ein Wrack, aber wenn er Jesus das Steuer überlässt, wird er das Schiff wieder aufrichten und es wird nicht Schiffbruch erleiden.“ (Brief 84, 1886, vom 14. Sep. 1886)
Leider setzte sich Butler nicht für Waggoner ein und so wurde Waggoner die Beglaubigung entzogen. Als Ellen White davon erfuhr, schrieb sie an Butler: „In meinen Träumen war ich bei eurer Sitzung … ich war sehr traurig, denn eurem Ergebnis kann ich nicht zustimmen… Ich denke, du hast ihn [Waggoner] dorthin gestoßen, wo er keine Chance mehr hat und sich nicht mehr erholen kann.“ (Brief 42, 1887 vom 13. Apr. 1887) Sie wollte Waggoner lieber nach Europa holen. In einer Vision sah sie, „wie er wieder aufgenommen wurde und der Segen Gottes auf ihm ruhte. … Ich wünschte, wir hätten viel mehr vom Geist Christi und viel weniger Ego und menschliche Meinungen. Wenn wir irren, dann auf der Seite der Barmherzigkeit und nicht auf der Seite der Verurteilung und des harten Handelns.“ (Brief 16, 1887, vom 21. Apr. 1887)
Der Traum hat sich tatsächlich erfüllt. Waggoner kam schließlich nach Europa und arbeitete an Ellen White´s Seite. Als Waggoner 1889 starb, wurde er neben J. N. Andrews in Basel beigesetzt. Offensichtlich hatte es Ellen White durch ihr vergebendes und barmherziges Verhalten geschafft, das Herz von Waggoner zu gewinnen.
Ellen White war kein Hardliner. Jesus war kein Hardliner. Gott ist kein Hardliner. Wenn Gott Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verbindet, bittet er uns, auch so miteinander umzugehen. Da warte ich nicht, bis das beim Anderen passiert. Das beginnt bei mir – zuerst bei mir, in meinem Kopf, in meinem Denken.